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Biographie Alexander M. Ostrowski
Ostrowski wurde am 25. September 1893 in Kiev geboren. Schon im Alter
von 18 Jahren begann er privat mit Dimitrii Aleksandrowitsch Grave
zu studieren, einem Begründer der russischen Schule der Algebra,
und selbst ein ehemaliger Schüler von Tschebyscheff in St. Petersburg.
Von diesem Kontakt mit Grave entstand Ostrowskis erste mathematische
Publikation: eine lange, in Russisch abgefasste Arbeit über Galois
Körper.
Studium
Er ging weiter nach Marburg, um dort zu studieren, geriet aber in
zivile Haft, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Dank einer Intervention
von Hensel wurden die Einschränkungen seiner Bewegungsfreiheit
etwas erleichtert, und es wurde ihm erlaubt, die Universitätsbibliothek
zu benutzen. Das war alles, was er wirklich brauchte. Während
dieser Periode der Isolation entwickelte Ostrowski, praktisch ohne
Hilfe, seine jetzt berühmte Bewertungstheorie auf Körpern.
Nach dem Krieg, als der Frieden zwischen der Ukraine und Deutschland
wieder hergestellt war, zog Ostrowski 1918 nach Göttingen, damals
weltweit die Hochburg der Mathematik. Dort stach er bald unter den
Studenten durch sein phänomenales Gedächtnis hervor und seine
schon ausgiebige, und auf breiter Basis beruhende Kenntnis der mathematischen
Literatur. Einer der Studenten erinnerte sich später, dass die
mühsame Literatursuche in Göttingen sehr einfach war: Man
brauchte nur den russischen Studenten Ostrowski zu fragen, und man
bekam die Antwort – unverzüglich! Er konnte so etwas sagen
wie: oh ja, das können Sie in einer 1882 Dissertation von Herrn
so und so in Rostock finden – eine Quelle, die niemand im Traum
nachgeschlagen hätte. Einmal musste er sogar Hilbert zu Hilfe
kommen, wenn dieser während eines Vortrags, wie er sagte, ein
schönes Theorem brauchte, an dessen Autor er sich nicht mehr erinnern
konnte. Es war Ostrowski, der ihm zuflüstern musste: „Aber,
Herr Geheimrat, es ist ja eines Ihrer eigenen Theoreme!'“
Es ist deshalb nicht überraschend, dass Felix Klein Ostrowski als
einen seiner Assistenten zu sich nahm und ihm, zusammen mit Fricke, die
Herausgabe des ersten Bandes seiner gesammelten Werke anvertraute. 1929
promovierte er summa cum laude mit einer unter Hilbert und Landau
geschriebenen Dissertation. Auch diese sorgte für einige Aufregung,
weil sie zum Teil eine Antwort gab auf Hilberts 18tes Problem. Es gelang
Ostrowski zu beweisen, dass Dirichlets Zeta-Reihe keiner algebraischen
Differentialgleichung genügen kann.
Weiterbildung
Ostrowskis Habilitation fand in Hamburg statt mit einer ebenfalls von Hilbert
angeregten Arbeit, die mit Moduln über polynomialen Ringen zu tun hatte.
1922 kehrte Ostrowski nach Göttingen zurück, wo er über neuere
Entwicklungen in der komplexen Funktionentheorie lehrte. Das führte zu seinen
Arbeiten über Lückentheoreme, Überkonvergenz von Potenzreihen
und das Randverhalten von konformen Abbildungen. Nach einem Jahr als Rockefeller
Research Fellow in Oxford, Cambridge und Edinburgh erhielt er 1927 – und
akzeptierte – einen Ruf an die Universität Basel. Die lokale Zeitung
konnte es nicht unterlassen zu kommentieren, dass 200 Jahre früher die Universität
Euler nach St. Petersburg verlor, wegen der Lotterie, die damals gebraucht wurde,
um zwischen sich bewerbenden Kandidaten auszuwählen – Euler verlor!
Jetzt aber gewann die Universität das grosse Los, indem sie Ostrowski aus
Russland nach Basel zurückbrachte!
Die Basler Jahre
Ostrowski blieb während seiner ganzen akademischen Karriere
in Basel, mit Ausnahme gelegentlicher Besuche in den Vereinigten Staaten
und Kanada. Es war in Basel, wo der Grossteil seines mathematischen
Werkes sich entfaltete. Es ist weder der Ort noch die Zeit, hier sein
Werk im Einzelnen darzustellen. Selbst wenn es so wäre, wäre
es unmöglich, auch nur eine Andeutung zu geben über die enorme
Vielfalt und Tiefe seiner Beiträge. Genüge es zu sagen dass,
am Anfang der 30-er Jahre, und besonders nach den 50-er Jahren, ein beachtlicher Schub
seiner Interessen von der reinen Mathematik zur mehr angewandten Mathematik
stattgefunden hat, der zweifellos das Aufkommen leistungsfähiger
elektronischer Rechner widerspiegelte.
Ostrowski blieb mathematisch aktiv
bis in seine 80-er Jahre, und konnte noch im Alter von 90 Jahren die
Veröffentlichung seiner Gesammelten Werke übersehen. Diese
erschienen schliesslich in sechs Bänden (Alexander Ostrowski, Collected
mathematical papers, Vols. 1-6, Birkhäuser, Basel, 1983-1985).
Im Jahr 1949 heiratete Ostrowski Margret Sachs, eine Psychoanalytikerin
aus der Schule von Carl Gustav Jung, und einmal, wie sie mir erzählt
hat, Sekretärin und Vertrauensperson des Schweizer Dichters und
Novellisten Carl Spitteler. Ihre warme, charmante Persönlichkeit
half, den strengen Lebensstil des Gelehrten Ostrowski zu mildern, und
vermittelte ein gewisses Mass von Lebensfreude.
Emeritierung
Nach Ostrowskis Ruhestand im Jahr 1958 nahmen er und seine Frau Wohnsitz
in Montagnola auf, wo sie früher eine schöne Villa gebaut
hatten – Almarost (ALexander MARgret OSTrowski), wie sie sie
genannt hatten – mit einem schönen Blick auf den Luganersee.
Sie waren immer froh, Besucher in Almarost zu empfangen, und ihre anmutige
Gastfreundschaft war legendär. Frau Ostrowski, die die Neigungen
der Mathematiker gut kannte, führte sie immer hinunter in Ostrowskis
Bibliothek, um sie eine Weile allein zu lassen, so dass sie das Neueste
in der Mathematik und den neuesten Klatsch einholen konnten. Die Wände
der Bibliothek waren voll mit Büchern, nicht nur mathematischen,
sondern auch einigen mit science fiction und Detektivgeschichten, die
seine bevorzugte Freizeitlektüre ausmachten.
Frau Ostrowski starb 1982, vier Jahre vor Ostrowskis Tod im Jahr 1986.
Sie sind in dem schönen Friedhof von Gentilino begraben, nicht
weit vom Grab von Hermann Hesse, mit dem sie befreundet waren.
Ostrowski ist mir in Erinnerung als ein Mann, der sich vollständig
seiner Wissenschaft hingegeben hat, der aussergewöhnlich hartnäckig
war im Umgang mit Problemen, so sehr dass, wenn er mit ihnen fertig geworden
war, wenige Fragen, wenn überhaupt welche, offen blieben. Er konnte
den Scharfsinn in den Arbeiten anderer aufrichtig bewundern, aber zur
gleichen Zeit auch seiner Verachtung Ausdruck geben über allfällige
Unsorgfältigkeiten.
Text: Walter Gautschi |